Einmal ergab es sich, dass der Sohn eines Schriftgelehrten gemeinsam mit Jesus spielte. Er ergriff einen Zweig und leitete das Wasser aus einem kleinen Teich ab, den Jesus mit Bedacht angelegt hatte. Als Jesus dies bemerkte, wurde er zornig und tadelte ihn lautstark: „Du unvernünftiges Geschöpf, was haben der Teich und das Wasser dir getan? Du sollst augenblicklich zu einem verdorrten Baum werden, ohne Blätter, ohne Wurzeln, ohne Früchte!“ Kaum hatte Jesus dies ausgesprochen, welkte der Knabe gänzlich dahin. Daraufhin ging Jesus zurück in sein Heim.
Es geschah, dass Jesus abermals durch das Dorf wanderte, als ein Knabe heranlief und ihn an der Schulter stieß. Jesus geriet in Zorn und verkündete: „Du sollst deinen Weg nicht weitergehen!“ Unverzüglich stürzte der Knabe zu Boden und verschied.
Nachdem der Knabe gestorben war, begaben sich die Eltern des Verstorbenen zu Joseph, machten ihm Vorwürfe und sagten: „Mit einem solchen Kind kannst du nicht in unserem Dorf verweilen. Lehre ihn stattdessen, zu segnen statt zu verfluchen, denn er tötet unsere Kinder!“ Daraufhin rief Joseph seinen Sohn zu sich, schalt ihn streng und wies ihn zurecht: „Warum handelst du auf diese Weise? Die Menschen müssen leiden, und dann werden sie uns hassen und verfolgen.“ Jesus antwortete: „Ich erkenne, dass dies nicht deine Worte sind. Dennoch werde ich lieber schweigen, da du es bist. Aber die Menschen sollen nicht ihrer gerechten Strafe entgehen!“ Kaum hatte er das ausgesprochen, erblindeten die Menschen, die ihn beschuldigt hatten.
Der Lehrer erklärte Jesus mit Nachdruck jeden Buchstaben von Alpha bis Omega, einen nach dem anderen. Da blickte Jesus ihn an und sagte: „Wenn du nicht das innere Wesen des Alpha kennst, wie willst du dann anderen das Beta lehren? Du bist ein Prahler! Wenn du wirklich Kenntnis hast, lehre zuerst das Alpha, und dann werden wir dir auch alles über das Beta glauben.“
Aus dem Kindheitsevangelium von Thomas, vermutlich entstanden am Ende des zweiten Jahrhunderts. Nach: Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, Insel Verlag 1999.