Öffentlicher Dienst: Selfie ohne Selbst

Kristof Schreuf

Heute, am 1. Mai 2023, wäre Kristof Schreuf sechzig Jahre alt geworden. Genau vor einem Jahr, am Sonntag, den 1. Mai 2022, seinem neunundfünfzigsten Geburtstag, schickte mir Kristof nachmittags eine E-Mail und bat mich um ein Telefonat. Er habe einen Gedanken zu meinem Buch »Selfie ohne Selbst«, den er mir gern mitteilen würde. Ich antwortete abends per E-Mail, nannte ihn meine Nummer, und wir verabredeten ein Gespräch am Mittwoch. Über dieses Telefonat mit Kristof habe ich einen Text für die einunddreißigste und letzte Ausgabe der Literaturzeitschrift »Metamorphosen« zum Thema »Gegenwart« geschrieben, die morgen offiziell im Verbrecher Verlag erschienen wird. Eine erweiterte Fassung des Textes habe ich heute mit Zustimmung der Redaktion auf meinem Blog veröffentlicht. Die Nachricht von Kristofs Tod und der Gedanke, dass mein erstes Telefonat mit ihm auch mein letztes blieb, machen mich weiterhin traurig und fassungslos.

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Mittwoch, 4. Mai 2022, Hamburg

Um elf Uhr vormittags will mich Kristof Schreuf anrufen. Er tut es nicht. Um Viertel nach elf rufe ich ihn an. Er kann mich nicht einordnen und fragt, ob ich Marc aus dem Proberaum sei. 

            Nein, erkläre ich, Marc von Selfie ohne Selbst.

            Marc, jubelt Kristof aus dem Bluetooth-Kopfhörer. 

            Er entschuldigt sich und erklärt, dass er etwas durch den Wind sei, da er vor einer Stunde eine CD-Rezension für Neues Deutschland abgeschickt und deshalb seit zwei Uhr nachts, was nicht seine normale Arbeitszeit sei, durchgeschrieben habe.

            Marc, wiederholt er meinen Namen verzückt und sagt, wie sehr er sich freue, dass wir jetzt sprechen, und setzt zu einer Lobeshymne auf mein Buch an. Mehrmals versuche ich, ihn zu unterbrechen, doch offenkundig funktioniert mein Mikrofon nicht richtig, weil ich kurz zuvor ein Systemupdate vorgenommen habe. Kristof lobt derweil die Wärme und Freundschaft, die aus meinem Buch spreche, das Ins-Gespräch-kommen und Auf-die-Leute-zugehen, etwa auf meinen früheren Agenturkollegen Kristof Magnusson. Wehrlos höre ich Kristof minutenlang zu, bis er stutzt.

            Marc?, fragt er unsicher und sagt, dass er glaube, dass etwas mit der Verbindung nicht stimme und er mich deshalb auf meiner Festnetznummer anrufen werde.

            Erleichtert lege ich auf und höre kurz danach das Klingeln meines Telefons. Ich hebe ab, danke Kristof für das Lob und erzähle von den Problemen mit meinen Kopfhörern.

            Aber, sagt Kristof und macht eine Pause. Hörbar traurig berichtet er, dass er Rutschky nicht kannte, sich nach der Lektüre meines Buches jedoch den dritten Band von Rutschkys Tagebüchern besorgt und diesen durchgelesen habe, ihn die Kälte und Enge darin allerdings abgeschreckt habe.

            Wir kennen und schätzen ja beide die Tagebücher von Helmut Krausser, vermutet Kristof richtig, doch im Gegensatz dazu finde er Rutschkys Tagebücher geradezu kleinbürgerlich, wie von jemandem, der sich ein Kissen holt und es sich im Fenster gemütlich mache. Er habe auch Fotos von Rutschky gesehen, berichtet Kristof weiter, auf denen ihm Rutschky so miefig und kleinbürgerlich vorgekommen sei, wie der Sohn von Volker Braun.

            Volker Braun hat einen Sohn?, frage ich.

            Keine Ahnung, lacht Kristof.

            Ich verteidige Herrn Rutschky, wie gestern schon im Telefonat mit René. Gewiss habe er beim Schreiben nicht seine beste Zeit gehabt. Schließlich gebe es ja auch viele Schriftsteller, die einerseits gute, andererseits auch schlechte Bücher schrieben. Womöglich sei auch nicht jede Form für alle gleich gut, denn so fand ich es zum Beispiel bemerkenswert, dass mir Rutschkys zweiter Tagebuchband über die Wendezeit gar nicht gefiel, ich aber seinen Essay »Mein Westdeutschland«, der zur gleichen Zeit entstand und im Merkur abgedruckt wurde und den ich kürzlich erneut gelesen hatte, ganz grandios fand. Dabei komme ich auch auf Rainald Goetz‘ Spiegel-Rezension zu Botho Strauß zu sprechen.

            Über Paare, Passanten, ruft Kristof begeistert, zitiert eine Passage aus dem Text und fragt, ob die Rutschkys das befreundete Ehepaar seien.

            Genau, antworte ich aufgeregt und kann es kaum glauben, dass wir in diesem Moment über einen fast einundvierzig Jahre alten Spiegel-Artikel sprechen. Das Gespräch bewegt sich weg von Herrn Rutschky. Ich bin ganz aufgekratzt und glücklich. Wir reden über alles Mögliche. Über Berlin, Wilmersdorf, Hamburg, Eimsbüttel, Tobias Levin und die Kraft von lebenslangen Freundschaften. Ich bedanke mich zudem für die zweiundvierzig (!) Text-Anhänge, die er seiner E-Mail von Sonntag angefügt hatte, und in der er sich mir als Musiker und Autor von Texten für Zeitungen, Kunstkataloge und Anthologien vorgestellt hatte, was gar nicht nötig war, da uns Conny vor etwa anderthalb Jahrzehnten schon einmal am Rande eines Konzerts von Angie Reed in Berlin persönlich vorgestellt hatte. Ein paar Jahre später hatte ich nach seinem Konzert im Düsseldorfer Zakk mit den Goldenen Zitronen und 1000Robota zudem seine CD »Bourgeois with Guitar« erstanden – als wahrscheinlich letzte CD, die ich überhaupt je in meinem Leben gekauft habe. Auf jeden Fall hatte ich in den letzten Tagen ausgiebig in seinen Texten quergelesen, von denen ich die meisten schon kannte, die aber wiederum viel Verschüttetes in mir zu Tage gefördert hatten, etwa den Namen Hans Barlach. Sogleich nimmt Kristof den Faden auf und beginnt mit einer Schimpfkanonade auf den Suhrkamp-Unhold, einem typischen Hamburger Pfeffersack. Dann erzählt Kristof von seinem Buch, das bei Suhrkamp erscheinen soll, und erklärt, dass er Autorinnen und Autoren nicht verstehe, die ihren Verlag wechseln wie einen Fußballverein. 

            Von Real Madrid zu Manchester City oder PSG, sagt Kristof spöttisch.

            Zum Schluss kommt er auf den Grund seines Anrufs zu sprechen, und äußert eine Bitte, die ich ihm unbedingt erfüllen müsse. Und zwar wünsche er sich, dass ich einen Roman mit Rutschky als Hauptfigur schreibe. Einen Roman, der Rutschkys Geschichte erzähle und aus seinem Leben berichte, genauso wie es Carl Barks in seinen Comics über Donald Duck und Entenhausen getan habe. Das habe er mir unbedingt persönlich sagen und deshalb heute mit mir telefonieren wollen. 

            Ich lache ungläubig, winde mich etwas und erzähle von meinen vielen Schreibaufgaben und Plänen. Doch all das lässt Kristof nicht gelten und schmückt die Romanidee aus. Am Ende unseres anderthalbstündigen Gesprächs bittet mich Kristof noch einmal inständig: Ich solle der Carl Barks von Michael Rutschky werden. Dann legt er auf.

Im Maien da freuet man sich, da singt man, da springt man…

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Ich freue mich sehr über die tollen und schmeichelhaften Besprechungen von »Selfie ohne Selbst« von Frank Schäfer (taz) und Ulrich Thiele (Szene Hamburg).

»Am Ende wächst sich der Essay zu einer poetologischen Reflexion über das autofiktionale Schreiben aus, das Rutschky durch das eigene Werk, noch mehr aber vielleicht durch seine Arbeit als Herausgeber von Der Alltag in Deutschland maßgeblich geprägt und durchgesetzt hat. ›Selfie ohne Selbst‹ gehört natürlich in diese Tradition. Dieses Buch ist zum einen der schriftgewordene Beweis für Degens Schülerschaft. Und zugleich ist es auch eine Art Gegenentwurf zum späten Rutschky. Marc Degens führt hier vor, wie Autofiktion eben auch aussehen kann: Wohlwollend und aufgeschlossen für die volle Farbpalette des Lebens. Und vor allem mit einem gesunden, reflektierten Verhältnis zu den eigenen Eitelkeiten.« (Frank Schäfer, taz vom 7. Mai 2022)

»›Selfie ohne Selbst‹ bereitet – obwohl der Autor viel hadert und trauert – Freude, weil Degens, der mit seinem unprätentiösen Stil das Spektakel im Unspektakulären sucht, eine große Alltagssucht weckt. Insbesondere auf die Dinge, die den Alltag schöner machen: Lektüren, Spaziergänge, Kneipengespräche, Kulturveranstaltungen. Auf einer solchen Kulturveranstaltung, einer Preisverleihung, endet der Essay schließlich mit einer großartigen, klugen, irgendwie auch humorvollen Schlusspointe, in der sich die Poetologie seines Aufsatzes verdichtet. Mehr noch, vielleicht sogar all die ambivalente Poetologie der Autofiktion.« (Ulrich Thiele, Szene Hamburg, Mai 2022)

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