Öffentlicher Dienst: Michael Rutschky

Kristof Schreuf

Heute, am 1. Mai 2023, wäre Kristof Schreuf sechzig Jahre alt geworden. Genau vor einem Jahr, am Sonntag, den 1. Mai 2022, seinem neunundfünfzigsten Geburtstag, schickte mir Kristof nachmittags eine E-Mail und bat mich um ein Telefonat. Er habe einen Gedanken zu meinem Buch »Selfie ohne Selbst«, den er mir gern mitteilen würde. Ich antwortete abends per E-Mail, nannte ihn meine Nummer, und wir verabredeten ein Gespräch am Mittwoch. Über dieses Telefonat mit Kristof habe ich einen Text für die einunddreißigste und letzte Ausgabe der Literaturzeitschrift »Metamorphosen« zum Thema »Gegenwart« geschrieben, die morgen offiziell im Verbrecher Verlag erschienen wird. Eine erweiterte Fassung des Textes habe ich heute mit Zustimmung der Redaktion auf meinem Blog veröffentlicht. Die Nachricht von Kristofs Tod und der Gedanke, dass mein erstes Telefonat mit ihm auch mein letztes blieb, machen mich weiterhin traurig und fassungslos.

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Mittwoch, 4. Mai 2022, Hamburg

Um elf Uhr vormittags will mich Kristof Schreuf anrufen. Er tut es nicht. Um Viertel nach elf rufe ich ihn an. Er kann mich nicht einordnen und fragt, ob ich Marc aus dem Proberaum sei. 

            Nein, erkläre ich, Marc von Selfie ohne Selbst.

            Marc, jubelt Kristof aus dem Bluetooth-Kopfhörer. 

            Er entschuldigt sich und erklärt, dass er etwas durch den Wind sei, da er vor einer Stunde eine CD-Rezension für Neues Deutschland abgeschickt und deshalb seit zwei Uhr nachts, was nicht seine normale Arbeitszeit sei, durchgeschrieben habe.

            Marc, wiederholt er meinen Namen verzückt und sagt, wie sehr er sich freue, dass wir jetzt sprechen, und setzt zu einer Lobeshymne auf mein Buch an. Mehrmals versuche ich, ihn zu unterbrechen, doch offenkundig funktioniert mein Mikrofon nicht richtig, weil ich kurz zuvor ein Systemupdate vorgenommen habe. Kristof lobt derweil die Wärme und Freundschaft, die aus meinem Buch spreche, das Ins-Gespräch-kommen und Auf-die-Leute-zugehen, etwa auf meinen früheren Agenturkollegen Kristof Magnusson. Wehrlos höre ich Kristof minutenlang zu, bis er stutzt.

            Marc?, fragt er unsicher und sagt, dass er glaube, dass etwas mit der Verbindung nicht stimme und er mich deshalb auf meiner Festnetznummer anrufen werde.

            Erleichtert lege ich auf und höre kurz danach das Klingeln meines Telefons. Ich hebe ab, danke Kristof für das Lob und erzähle von den Problemen mit meinen Kopfhörern.

            Aber, sagt Kristof und macht eine Pause. Hörbar traurig berichtet er, dass er Rutschky nicht kannte, sich nach der Lektüre meines Buches jedoch den dritten Band von Rutschkys Tagebüchern besorgt und diesen durchgelesen habe, ihn die Kälte und Enge darin allerdings abgeschreckt habe.

            Wir kennen und schätzen ja beide die Tagebücher von Helmut Krausser, vermutet Kristof richtig, doch im Gegensatz dazu finde er Rutschkys Tagebücher geradezu kleinbürgerlich, wie von jemandem, der sich ein Kissen holt und es sich im Fenster gemütlich mache. Er habe auch Fotos von Rutschky gesehen, berichtet Kristof weiter, auf denen ihm Rutschky so miefig und kleinbürgerlich vorgekommen sei, wie der Sohn von Volker Braun.

            Volker Braun hat einen Sohn?, frage ich.

            Keine Ahnung, lacht Kristof.

            Ich verteidige Herrn Rutschky, wie gestern schon im Telefonat mit René. Gewiss habe er beim Schreiben nicht seine beste Zeit gehabt. Schließlich gebe es ja auch viele Schriftsteller, die einerseits gute, andererseits auch schlechte Bücher schrieben. Womöglich sei auch nicht jede Form für alle gleich gut, denn so fand ich es zum Beispiel bemerkenswert, dass mir Rutschkys zweiter Tagebuchband über die Wendezeit gar nicht gefiel, ich aber seinen Essay »Mein Westdeutschland«, der zur gleichen Zeit entstand und im Merkur abgedruckt wurde und den ich kürzlich erneut gelesen hatte, ganz grandios fand. Dabei komme ich auch auf Rainald Goetz‘ Spiegel-Rezension zu Botho Strauß zu sprechen.

            Über Paare, Passanten, ruft Kristof begeistert, zitiert eine Passage aus dem Text und fragt, ob die Rutschkys das befreundete Ehepaar seien.

            Genau, antworte ich aufgeregt und kann es kaum glauben, dass wir in diesem Moment über einen fast einundvierzig Jahre alten Spiegel-Artikel sprechen. Das Gespräch bewegt sich weg von Herrn Rutschky. Ich bin ganz aufgekratzt und glücklich. Wir reden über alles Mögliche. Über Berlin, Wilmersdorf, Hamburg, Eimsbüttel, Tobias Levin und die Kraft von lebenslangen Freundschaften. Ich bedanke mich zudem für die zweiundvierzig (!) Text-Anhänge, die er seiner E-Mail von Sonntag angefügt hatte, und in der er sich mir als Musiker und Autor von Texten für Zeitungen, Kunstkataloge und Anthologien vorgestellt hatte, was gar nicht nötig war, da uns Conny vor etwa anderthalb Jahrzehnten schon einmal am Rande eines Konzerts von Angie Reed in Berlin persönlich vorgestellt hatte. Ein paar Jahre später hatte ich nach seinem Konzert im Düsseldorfer Zakk mit den Goldenen Zitronen und 1000Robota zudem seine CD »Bourgeois with Guitar« erstanden – als wahrscheinlich letzte CD, die ich überhaupt je in meinem Leben gekauft habe. Auf jeden Fall hatte ich in den letzten Tagen ausgiebig in seinen Texten quergelesen, von denen ich die meisten schon kannte, die aber wiederum viel Verschüttetes in mir zu Tage gefördert hatten, etwa den Namen Hans Barlach. Sogleich nimmt Kristof den Faden auf und beginnt mit einer Schimpfkanonade auf den Suhrkamp-Unhold, einem typischen Hamburger Pfeffersack. Dann erzählt Kristof von seinem Buch, das bei Suhrkamp erscheinen soll, und erklärt, dass er Autorinnen und Autoren nicht verstehe, die ihren Verlag wechseln wie einen Fußballverein. 

            Von Real Madrid zu Manchester City oder PSG, sagt Kristof spöttisch.

            Zum Schluss kommt er auf den Grund seines Anrufs zu sprechen, und äußert eine Bitte, die ich ihm unbedingt erfüllen müsse. Und zwar wünsche er sich, dass ich einen Roman mit Rutschky als Hauptfigur schreibe. Einen Roman, der Rutschkys Geschichte erzähle und aus seinem Leben berichte, genauso wie es Carl Barks in seinen Comics über Donald Duck und Entenhausen getan habe. Das habe er mir unbedingt persönlich sagen und deshalb heute mit mir telefonieren wollen. 

            Ich lache ungläubig, winde mich etwas und erzähle von meinen vielen Schreibaufgaben und Plänen. Doch all das lässt Kristof nicht gelten und schmückt die Romanidee aus. Am Ende unseres anderthalbstündigen Gesprächs bittet mich Kristof noch einmal inständig: Ich solle der Carl Barks von Michael Rutschky werden. Dann legt er auf.

Im Maien da freuet man sich, da singt man, da springt man…

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Ich freue mich sehr über die tollen und schmeichelhaften Besprechungen von »Selfie ohne Selbst« von Frank Schäfer (taz) und Ulrich Thiele (Szene Hamburg).

»Am Ende wächst sich der Essay zu einer poetologischen Reflexion über das autofiktionale Schreiben aus, das Rutschky durch das eigene Werk, noch mehr aber vielleicht durch seine Arbeit als Herausgeber von Der Alltag in Deutschland maßgeblich geprägt und durchgesetzt hat. ›Selfie ohne Selbst‹ gehört natürlich in diese Tradition. Dieses Buch ist zum einen der schriftgewordene Beweis für Degens Schülerschaft. Und zugleich ist es auch eine Art Gegenentwurf zum späten Rutschky. Marc Degens führt hier vor, wie Autofiktion eben auch aussehen kann: Wohlwollend und aufgeschlossen für die volle Farbpalette des Lebens. Und vor allem mit einem gesunden, reflektierten Verhältnis zu den eigenen Eitelkeiten.« (Frank Schäfer, taz vom 7. Mai 2022)

»›Selfie ohne Selbst‹ bereitet – obwohl der Autor viel hadert und trauert – Freude, weil Degens, der mit seinem unprätentiösen Stil das Spektakel im Unspektakulären sucht, eine große Alltagssucht weckt. Insbesondere auf die Dinge, die den Alltag schöner machen: Lektüren, Spaziergänge, Kneipengespräche, Kulturveranstaltungen. Auf einer solchen Kulturveranstaltung, einer Preisverleihung, endet der Essay schließlich mit einer großartigen, klugen, irgendwie auch humorvollen Schlusspointe, in der sich die Poetologie seines Aufsatzes verdichtet. Mehr noch, vielleicht sogar all die ambivalente Poetologie der Autofiktion.« (Ulrich Thiele, Szene Hamburg, Mai 2022)

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Rom

»Auch ich in Arkadien!«, Göthe.

Rolf Dieter Brinkmann, Rom, Blicke

Montag, 20. Dezember 2021, Hamburg/Rom

Bis 6 Uhr 15 geschlafen. Packen und Abschalten der SUKULTUR-E-Mails auf meinem Rechner. Eine Woche lang bekomme ich keine E-Mails mehr an meine sukultur-Adresse – wahrscheinlich zum allerersten Mal. Um 9 Uhr 40 am Flughafen. Schnelles Einchecken, danach suchen wir eine Bäckerei auf. Um 11 Uhr 40 mit Eurowings nach Rom. Mit knapp zwanzigminütiger Verspätung Abflug. 

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Auf der Fahrt vom Flughafen Fiumicino staunendes aus dem Fenster starren. Was ist denn das für ein irrer Kuppelbau? Der Petersdom? Nein, nur die Basilika St. Peter und Paul. Je näher wir uns unserer Unterkunft nähern, um so monumentaler werden die Bauten. Die Caracalla-Therme, der Circus Maximus und das Forum Romanum. Kurz vor unserem Ziel kommen wir an dem Piazza Venezia vorbei, mit dem prunkvollen Denkmal für Vittorio Emanuele II, dem ersten König von Italien, ein Monument, das von den Einheimischen laut Google »Schreibmaschine« genannt wird.

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Anschließend passieren wir die Buchhandlung Feltrinelli und ich denke an die Tagebücher von Raddatz und die dort erwähnte Inge Feltrinelli, eine gebürtige Essenerin, die 1960 den Verleger Giangiacomo Feltrinelli heiratete.

Wikipedia: »Die Ehe zerbrach aufgrund der kommunistischen Aktivitäten Feltrinellis Ende der 1960er Jahre, und sie ließen sich scheiden. Ab 1969 war sie Vizepräsidentin des Verlags Feltrinelli und führte nach dem Tod Giangiacomo Feltrinellis, der 1972 unter ungeklärten Umständen ums Leben kam, die Geschäfte allein weiter. Nach eigener Aussage war es auch im Italien der 1960er Jahre schwer, Chefin zu sein, da Frauen vor allem für ›Kinder, Küche und Kirche‹ zuständig waren. Sie habe sich außerdem gegen Ressentiments den Deutschen gegenüber durchsetzen müssen. Nach dem Tod ihres Mannes habe sie, um auf die Markttendenz zu reagieren, das Programm geändert und weniger politische Titel verlegt. Sie brachte neben politisch engagierter Literatur nun auch Bücher zu Mode und Lifestyle sowie Tonträger, Kochbücher und E-Books heraus und sicherte so das wirtschaftliche Überleben des Verlags im Wandel der Zeitläufte. Sie baute in Italien eine Buchhandelskette auf, deren Filialen sich durch kleine Cafés und Leseecken auszeichneten und bald in etwa 100 Städten vertreten war.«

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Nach wenigen Metern halten wir in der Via dell’Arco della Ciambella im Stadtviertel Pigna, unserem Ziel. Erwartet werden wir von Alberto, der uns unser Apartment zeigt, dass in einem früheren Franziskanerkloster untergebracht ist. Die Räume und die Terrasse gefallen uns sehr gut. 

Nachdem wir Alberto bezahlt haben, packen wir rasch aus und suchen einen Ort zum Essen. Wir schlendern durch die Nebenstraßen am Pantheon vorbei, laufen durch einige hübsche, aber viel befahrene Gassen und folgen schließlich einer Internetempfehlung und essen in einem schlichten, aber gemütlichen Restaurant das »Touristenmenü« für 18 Euro: 4 Gänge inklusive Vor- und Nachspeise. Dazu Wein. 

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Anschließend schlendern wir zum Largo di Torre Argentina, eine Ausgrabungsstätte mit vier Tempeln aus der Zeit der Römischen Republik, die heute eine Katzenkolonie beherbergt.

Der Platz befindet sich einige Meter unter dem Straßenniveau, umfasst vier Tempel, ist von Zäunen umringt und von allen vier Seiten einsehbar. Tatsächlich sehen wir in den antiken Tempelanlagen einige Katzen in der Dunkelheit herumstreunern. Es ist ein surreales Bild: die gemauerten Ruinen, die Säulenreste, die puschelige Katze ohne Schwanz, die sich durch die Trümmer bewegt, die Pinienbäume mit den hohen, schlanken Stämmen und den breiten, dichten Kronen, die tagsüber so angenehm Schatten spenden, all dies umflossen von den wahnsinnigen und rücksichtslosen Verkehrsteilnehmern inmitten einer Hauptverkehrsader von Rom. Angeblich wurde hier Julius Cäsar ermordet. Eine Pinie markiert die Stelle. 

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Die Phantasie an der Macht

Außerdem kam hinzu, dass ich bereits bevor ich mit Punk und diesen Dingen überhaupt irgendwie in Berührung kam, schon ziemlichen Spaß an Selbstverletzungsaktionen hatte, und mal auch also auf so einem Faschingsfest mit jeder Menge Schnittwunden aufgetaucht bin und zum Entsetzen der Leute und das sehr goutiert habe das Entsetzen der Leute.

Wo war das Vergnügen?

Überall am ganzen Körper. Ich hatte dann kurze Hosen und so ein kleines kurzes T-Shirt an und hab mich also am ganzen Körper halt alles aufgeschlitzt, irgendwie überall.

Womit?

Mit einer Rasierklinge.

Das kann ich auch gern mal vormachen wie das ausschaut.

Was haben Ihre Eltern zu dem Konflikt gesagt?

Ja, die waren auch schon mehr schockiert.

Die fanden das schon einen extremen Rückschritt in –

Ja, ich bin ja auch relativ alt schon und die haben gemeint, das wäre … also ich müsste doch jetzt langsam über die Kindereien und Turnschuhe und sonstige Dinge hinauskommen und dann wie ein erwachsener Mensch werden und auch dazu hatte ich eigentlich überhaupt keine Lust gerade.

Ich wollte eigentlich nur kaputt sein.  

So kaputt wie ich bin.

Und das sollten auch alle sehen. 

Jetzt kommt die Flut. Die Phantasie an der Macht. Autor und Regie: Michael Rutschky. Sender: N3-NDR-RB-SFB. Sendedatum: 31.10.1982. Länge: 44 Min. Produktionsjahr: 1982.

Meisterwerke, Vorbilder, Mentoren

Ich weiß nicht, ob es Meister gibt, auf alle Fälle gibt es Meisterwerke. Die »Römische Geschichte« von Theodor Mommsen zum Beispiel. Mommsen hat für sie zu Recht den Literaturnobelpreis erhalten. Die »Römische Geschichte« ist für mich eines der sprachlich schönsten Werke der deutschen Literatur. Ein anderes Meisterwerk ist »Die Traumdeutung« von Sigmund Freud. Der Siegeszug der Psychoanalyse hat auch viel mit Freuds Sprachkraft zu tun. Mich langweilen literarische Traumerzählungen in der Regel, doch »Die Traumdeutung« habe ich verschlungen.

Meisterwerke sind Fixpunkte. Autoren schreiben nicht in den leeren Raum, Autoren müssen sich immer wieder selbst verorten. Meisterwerke bieten Orientierung. Aber für meine alltägliche schriftstellerische Arbeit sind sie relativ unerheblich. Obwohl, etwas sehr Wichtiges habe ich aus Meisterwerken doch gelernt: Auch Meisterwerke können Schwächen und Fehler besitzen. Beispielsweise finde ich den Amerika-Teil in Louis-Ferdinand Célines »Reise ans Ende der Nacht« misslungen, trotzdem ist der Roman für mich ein Meisterwerk. Oder Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«: Der Roman franst aus, das ganze Romanvorhaben scheitert, dennoch ist »Der Mann ohne Eigenschaften« in meinen Augen ein Meisterwerk.

Aber als Vorbilder taugen diese Meisterwerke nicht. Warum nicht? Weil Vorbildhaftigkeit mit Zeitgenossenschaft zusammenhängt. Ich weiß nicht, wie Mommsen oder Italo Svevo oder James Joyce heute schreiben würden … Ich weiß auch nicht, ob mir ihre neuen Werke gefallen würden.
Vorbilder habe ich andere. Peter Handke zum Beispiel. Oder Rainald Goetz. Wobei sie weniger Einfluss auf mein Schreiben ausüben, als vielmehr auf meine schriftstellerische Haltung. Vorbildlich für mich sind ihre Vielseitigkeit, ihr Eigensinn und ihre Beharrlichkeit. Peter Handke und Rainald Goetz haben mich in dieser Hinsicht stark beeindruckt und beeinflusst.

Auch heutzutage entstehen Meisterwerke. Eckhard Henscheids »Trilogie des laufenden Schwachsinns« halte ich für ein Meisterwerk. Es gibt auch meisterhafte Erzählungen oder Gedichte, auch von jungen Autoren. Ich erfreue mich an diesen Werken, sie sind Ansporn, einige wecken meinen Neid – aber stärkeren Einfluss auf mein Schreiben haben die nicht meisterhaften Texte. Sie lese ich viel genauer. Ich entdecke in ihnen Dinge, die mich stören und ich frage mich, was ich anders gemacht hätte.

In eine Meisterschule bin ich nicht gegangen. Wobei ich durchaus glaube, dass man das literarische Schreiben erlernen kann – ja, ich glaube sogar, dass man als Schriftsteller nie ausgelernt hat. Das macht den Beruf phasenweise zwar unerträglich, es ist aber auch ein starker Antrieb und schützt vor Stagnation.

Am Anfang meines Schreibens habe ich viel imitiert und kopiert, bewusst und unbewusst. Eine lange Zeit habe ich versucht, wie Max Goldt zu schreiben. Das war sehr frustrierend, denn natürlich ist Max Goldt der bessere Max Goldt von uns beiden. Und ob dieses Imitieren tatsächlich hilfreich war, eine eigene Stimme auszubilden, wage ich zu bezweifeln. Es gibt meines Erachtens kürzere Wege zur Erkenntnis.

Einen Meister habe ich nicht gehabt, aber einen Mentor: Michael Rutschky. Ich kenne einige Autoren, die durch die so genannte »Rutschky-Schule« gegangen sind – ich glaube, dieses Wort ist tatsächlich angebracht. Ich habe Michael Rutschkys Bücher bewundert, ihn angeschrieben, damals war ich noch Student. Michael Rutschky wohnte in Berlin, ich im Ruhrgebiet, auf dem Germanistentag 1997 in Bonn haben wir uns das erste Mal getroffen. Ich wollte freier Autor werden, wusste aber nicht wie, natürlich hatte ich viele berechtigte Ängste. Immer wenn ich später in Berlin war, habe ich mich bei Michael Rutschky gemeldet, und er hat mich zum Bier eingeladen. Über meine Texte haben wir eigentlich nie gesprochen; er hatte einen Aufsatz von mir in seiner Zeitschrift »Der Alltag« veröffentlicht, das reichte mir als Bestätigung. Michael Rutschky hat mich gefördert, in dem er mich weiterempfahl, er hat mich beraten, oft vergeblich, und er hat mir viele Lektüretips gegeben. Am wichtigsten aber war für mich sein Vertrauen: »Herr Degens, Sie gehen schon ihren Weg.« Ohne diesen Satz wäre ich wahrscheinlich nie Schriftsteller geworden.

(Entstanden anläßlich eines Radio-Features zum Thema »Schüler und Meister« von Tobias Lehmkuhl)

Literatur und Geselligkeit. Die Begeisterungsshow im Berliner Kaffee Burger. Von Michael Rutschky.

Diese Geschichte ist kompliziert. Sie handelt von dem Quellort einer neuen Avantgarde, die sich hier regelmäßig versammelt, im Berliner Kaffee Burger, wobei man das „Kaffee“ nicht französisch schreibt, sondern wie das deutsche Wort. Ein schwer ostig inszeniertes Lokal in der ehemaligen Wilhelm-Pieck-Straße, halbdunkel-gemütlich, ornamentierte Tapeten, unbequeme Stühle.

Radio Hochsee heißt beispielsweise eine Veranstaltung, die hier regelmäßig stattfindet. Oder eben Begeisterungsshow, von der jetzt erzählt wird. An jedem letzten Montag des Monats rollt sie ab, und man könnte sie als eine Art performatives Feuilleton charakterisieren, wenn das viel sagen würde.

Aber die Geschichte ist eben kompliziert. Ein Internet-Magazin namens satt Punkt org veranstaltet die monatliche Begeisterungsshow und ist gleichzeitig mit einem Kleinstverlag namens SuKuLTuR vernetzt, der gelbe Lesehefte – wie von Reclam – publiziert. Wer drei Euro Eintritt bezahlt, bekommt das neueste Exemplar. Gestern war es Moldawien von Timo Berger, eine deutsch-lateinamerikanische Liebesfarce in 17 Druckseiten, mit zwei schönen Zeichnungen von Ana Albero. Außerdem erhält der Besucher der Begeisterungsshow ein Los; denn es findet dabei eine Tombola statt. Bücher waren diesmal die Preise, das Juniheft der Zeitschrift Merkur, Musik-CDs und außerdem – für Leute, die weder lesen noch Musik hören – ein Tischstaubsauger, ein Laserpointer und eine Schachtel mit Messerbänkchen.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: dies ist nicht Kabarett mit Publikumsbeteiligung (alle Gewinner wählten übrigens den Lese- und Hörstoff). Der Gestus, den die Moderatoren kultivieren – Marc Degens und Frank Maleu, auf der Bühne an den Laptops zu sehen ist außerdem Torsten Franz, der das Bildprogramm, auf die Stirnseite projiziert, steuert – , der Gestus der Begeisterungsshow ist der einer kunstvollen Kindlichkeit, der Begeisterung eben, wie sie auch Harald Schmidt in seiner Fernsehshow vorzuführen liebte. Was Degens und Maleu und die Ihren präsentierten, begleiteten sie immer wieder mit der Formel „und das hat mich begeistert“. Kulturkonsum unter Hochrufen, sozusagen, als ästhetische Veranstaltung vor einem Publikum, das, zwischendurch Bier und andere Getränke an der Theke holend, auch leise plaudernd, so etwas zu goutieren versteht.

Was begeisterte aber? Homers Ilias beispielsweise, in der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt, gelesen von Rolf Boysen: Schauer laufen ihm über den Rücken, gestand Tobias Lehmkuhl und kam artig auf die abendländische Literatur zu sprechen, die von Homer ihren Ausgang nehme. Dazu gab es ein Bild des schönen Brad Pitt, der Achill in Wolfgang Petersens Troja-Film, zu bewundern. Und natürlich kein kritisches Wort über diesen Film, sondern nur Begeisterung.

Sie entfachte auch die Musik von Felix Kubin und von den Boxhamsters aus Gießen, des Trios Der Plan, das sich eben neu formiert hat und glorreich in die Neue Deutsche Welle der Achtziger zurückführt. Marc Degens befragte den maulfaulen Moritz Reichelt, dessen von Südseekunst inspirierte Malerei unterdessen als Projektion zu sehen war. Ja, alles dicht vernetzt eben: Reichelt ist auch Maler (er gehörte seinerzeit locker zu den Jungen Deutschen Wilden), und was er über Der Plan erzählte, führte in die verwickelten Genealogien, die solche Musiker verbinden und von ihren Fans wie kostbares Bildungswissen gehortet werden. Vernetzung eben, die, neben der Begeisterung – wenn man neuen Managementlehren folgt – , einen modernen Betrieb charakterisieren (den alten Betrieb charakterisierten Hierarchie und Lähmung). Auch in dieser Hinsicht ist das Kaffee Burger also auf der Höhe der Zeit.

Sodann begeisterten gestern abend ein palästinensischer Experimentalfilm und die Comics von James Kochalka – aber dies hier ist ohnedies nur eine Auswahl. Wer im Netz auf satt Punkt org geht, den überschütten Informationen; und das Kaffee Burger findet sich in der Torstraße 60; durch Goldfarbe gehöht glänzt der Name in den Fenstergittern.

(Gesendet im Deutschlandfunk, Kultur heute, 1. Juni 2004)

Schema

»Wohin man auch reist, es soll überall der Apparat vorgefunden werden, der alles, was Reise heißen darf, befriedigt. Die Reise als Schema, der Urlaub als Schema, so wie die Arbeit ein Schema ist. Bis in die Extravaganzen wird alles festgelegt, damit niemand das System transzediert. Der Terror auf Samtpfoten, halb bewusst, unbewusst.« (Gerhard Amanshauer, Es wäre schön, kein Schriftsteller zu sein)

Michael Rutschky presents DAS SCHEMA

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