Der Schrankmann
Das ist die Geschichte von Kristian Vandet Jørgensen, eine auf wahren Begebenheiten beruhende Erzählung, die 1914 in Jütland ihren Anfang nimmt und bis in die Gegenwart reicht. Eine Geschichte über Isolation, Inspiration, Treue, Kunst und Krieg; über Nachbarschaft, Downsizing, Tiny Houses und die Liebe eines Mannes zu seinem Schrank.
für Felix Kubin
1914 kommt der Molkereiarbeiter Kristian Vandet Jørgensen im Alter von siebzehn Jahren mit einer Schubkarre, auf der er einen Kleiderschrank transportiert, aus dem Norden des Landes an den Oddesund und lädt das Möbel am Strand von Skibdal ab. Die nächsten drei Jahre lebt Jørgensen in dem Schrank, der ungefähr einen Meter achtzig hoch, fünfundneunzig Zentimeter breit und fünfzig Zentimeter tief ist. Hochkant gestellt kann Jørgensen in dem Schrank stehen, sitzen und kochen. Nachts, wenn er schlafen will, legt er den Schrank auf den Boden, kriecht hinein, streckt die Beine aus, klappt die Tür zu und verriegelt den Schrank von innen mit einem Haken. Aus nächster Nähe erlebt Jørgensen so den Dampfschiffbetrieb mit und sieht die Fähren zwischen Oddesund Nord und Oddesund Süd hin und her fahren. 1917 zieht er mit seinem Schrank weiter an den Strand von Vesterfjord. Seine Toilette ist ein Bach in einem Kiefernwald und sein Badezimmer die Nissum Bredning. Mit Gelegenheitsarbeiten verdient er sich Brot und Kartoffeln. Jahre vergehen und Jahrzehnte. Jørgensen und sein Schrank werden Zeugen des zweijährigen Baus der Oddesund-Brücke und ihrer Einweihung im Jahre 1938. Im selben Jahr errichtet er um den Schrank herum einen kleinen Schuppen, der halb in den Boden eingegraben ist. In dem Schuppen befinden sich ein Tisch und eine Sammlung von Dingen, die Jørgensen gefunden hat oder geschenkt bekam. Bernstein und Muschelschalen vom Strand, seltsam geformte Steine aus dem Moor, gebrauchte Glühbirnen und Glaskugeln aus Fischernetzen.
Während der Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg errichten die Wehrmachtssoldaten ihre Verteidigungsanlagen nicht weit von Jørgensens Schuppen. Sie rollen Stacheldraht aus, bauen Bunker und Panzersperren und verminen das Gelände. Dennoch dauert es zwei Jahre, bis Jørgensen realisiert, dass sich Europa im Krieg befindet und seine neuen Nachbarn einer feindlichen Macht angehören.
Die Leute aus der Umgebung nennen ihn Æ Skawmand, den Schrankmann. Oft bekommt er Besuch, doch niemand darf seinen Schuppen betreten. 1954 ersetzt der Gemeinderat des Ortes seinen Schuppen durch ein kleines Backsteinhaus. Auch zu diesem erhält niemand Zutritt. Dabei unterhält sich Jørgensen gern mit Menschen und spricht mit seinen Besuchern durch ein Fenster ohne Scheibe.
Die Nächte verbringt er weiterhin in seinem Kleiderschrank. Zwei Jahre später, im Jahr 1956, wird Jørgensen tot neben seinem geliebten Schrank gefunden, in dem er zweiundvierzig Jahre gelebt hat, neununddreißig Jahre davon am Strand von Vesterfjord. Ein Satz ist von ihm überliefert: »In all den Jahren, die ich hier gewohnt habe, habe ich nie die Türschwelle eines anderen Mannes überschritten.«
Im Februar 2007 veröffentlicht die Band Kain des Berliner Songwriters Lino Modica ihr Debütalbum »Leben im Schrank« mit einem gleichnamigen Lied als siebtes Stück. »Keine Not / Keine Angst / Ich sitz allein im Schrank // Frei von Zeit / Alles egal / Hier habe ich die Wahl«. Es ist kaum vorstellbar, dass Lino Modica und seine Mitstreiter die Geschichte von Kristian Vandet Jørgensen nicht kannten. »Hier bin ich leicht / hier bin ich wer / Denn im Schrank fühle ich mich nie leer«. Die dritte Strophe des Titelsongs hebt an mit einem Versprechen: »Hier bin ich / Hier kann ich sein / Der Schrank ist und bleibt mein Heim«. Wehmütig endet das Lied als trotzige Beschwörung: »Wenn ich will… / Wenn ich will… / Wenn ich will… / Dann will ich mein Leben im Schrank«. Laut Band-Info geht es in dem Lied darum, »dass man sich im Schrank einschließt und von dort die ganze Welt steuern kann.«
Den Rezensenten auf plattentests.de überzeugt das Album allerdings nicht und er vergibt nur drei von zehn Punkten: »Kain klingen nicht unbedingt so, wie ein verfaulter Zahn schmerzt. Vielmehr sind Kain ziemlich egal. Aber wer würde in einem Schrank denn auch die ganz große Aufregung vermuten?«
Gewiss ist es nicht die große Aufregung, die Jørgensens Geschichte so faszinierend macht und zahlreiche Menschen zu Liedern, Filmen und Theaterstücken inspiriert. Etwa den in Algerien geborenen und in Kairo als Künstler, Filmemacher und Kunstpädagoge arbeitenden Bassem Yousri. Yousri, der, laut Selbstauskunft, in seinen Arbeiten Humor als Mittel einsetzt, um mit einem Publikum in aller Welt in Kontakt zu treten und Stereotypen und kulturelle Klischees zu entlarven, arbeitet mit einer Vielzahl von Medien. Er produziert Dokumentar- und Experimentalfilme und präsentiert Installationen in Galerien und im öffentlichen Raum. Mit Hilfe der dänischen Künstlervereinigung Et4u kommt er 2012 nach Jütland und erforscht dort Jørgensens Leben. Daraus entsteht der achtundvierzigminütige, dreisprachige (arabisch, englisch, dänisch) Film »The Wardrobe-Man«, der in Dänemark und Ägypten gedreht wird. In der Rahmenhandlung des Films sitzt Yousri mit seinem Freund Shadi in einem Kleiderschrank in Kairo und erzählt diesem von seinen Recherchen in Dänemark.
Der Film wird im September 2017 im Rahmen des zehntägigen Video- und Performancekunstfestivals MEETINGS in Oddesund gezeigt. Weitere Vorführungen von »The Wardrobe-Man« erfolgen im Mai 2018 begleitet von einem Künstlergespräch mit Yousri an der staatlichen Universität von Wisconsin in Milwaukee, im Februar 2019 im Kino Zawya in Kairo und im Februar 2020 im Kunstraum SHELTER ART SPACE im Zentrum von Alexandria. Zudem wird der Film fünf Tage lang im Februar und März 2021 im Rahmen des ARABFUTURISM-Festival des Palais des Beaux-Arts in Brüssel auf Vimeo ausgestrahlt, flankiert von einem Gespräch mit der Kunsttheoretikerin Charlène Dinhut, die als Kuratorin am Centre Pompidou in Paris arbeitet.
»Die Geschichte und meine Ratlosigkeit während meiner Recherche haben mich dazu inspiriert, einen halbdokumentarischen Film zu drehen«, erklärt Yousri in einem Interview. »Ein Dokumentarfilm ist es nur in dem Sinne, dass es darum geht, die Wahrheit in Bezug zum Dokumentierten zu hinterfragen.«
Mit Ratlosigkeit hat ebenfalls der irische Schauspieler und Theatermacher Oisín Robbins zu kämpfen, als er bei einem Dänemarkbesuch auf die Geschichte von Jørgensen aufmerksam wird. Sie lässt ihn auch nach seiner Rückkehr nach Galway nicht mehr los. Seine Fantasie spielt verrückt, und Robbins entschließt sich, ein Theaterstück über den Schrankmann zu schreiben und aufzuführen. Deshalb nimmt er Kontakt mit dem Heimatmuseum in Struer auf, um alles über Kristian Vandet Jørgensen und seinen Schrank zu erfahren. Mit Unterstützung eines Stipendiums des Creative Europe Programms der Europäischen Union reist Robbins erneut in die Region. Er durchforstet das Archiv und nimmt Kontakt mit den älteren Mitgliedern der Gemeinde auf, die den Iren willkommen heißen und ihm Geschichten und Anekdoten über »the Skawman« erzählen. Trotzdem gibt es für Robbins am Ende mehr Fragen als Antworten, und die Arbeit an seinem Theaterstück »My wardrobe is my home« gerät ins Stocken.
Auch ich erzähle pausenlos vom Schrankmann. Kurz bevor mein Freund, der Komponist und Musiker Felix Kubin, zu einem Konzert in die Geburtsstadt von Hans Christian Andersen nach Odense aufbricht, biete ich mich ihm sogar als Librettist für eine Oper oder ein Hörstück an. Felix findet die Geschichte überaus faszinierend und fragt sich, wie ein Schrank so lang der rauen Witterung standhalten konnte, immerhin zweiundvierzig Jahre lang … Das Möbel beeindruckt ihn noch mehr als sein Besitzer. Felix fragt mich, ob er den Kleiderschrank in Dänemark besichtigen könne. Nein, antworte ich und erkläre, dass man den Schrank meines Wissens nirgendwo besichtigen könne, ich persönlich es allerdings sehr schön und naheliegend finden würde, wenn Jørgensen in seinem Schrank begraben worden wäre.
Barfuß gehe ich zum Strand, drehe nach wenigen Metern aber wieder um, weil ein heftiger Regen einsetzt. Stattdessen reinige ich im Ferienhaus den Kamin und wage danach einen neuen Anlauf. Es ist irre windig und die Sandkörner, die durch die Luft fegen, schmerzen wie Nadelstiche auf meinen nackten Waden und Oberschenkeln. Nach dem Strandspaziergang ziehe ich mich um, nehme den Autoschlüssel aus der Schale im Flur und fahre mit dem Mietwagen zur vierzig Kilometer entfernten Oddesund-Brücke. Von der Nationalstraße biege ich ab auf das Gelände des Regelbaus 411. Die von den Deutschen hinterlassenen Betonbunkerbauten aus dem Zweiten Weltkrieg dienen hier heute vornehmlich als Ausstellungsräume für Gegenwartskunst. Ich parke den Mietwagen direkt neben dem Oddesundtårn, einem zwölfeinhalb Meter hohen Aussichtsturm vollgestopft mit historischen, geologischen, klimatischen und zoologischen Informationen. Als ich aussteige, setzt ein leichter Regen ein. Ich ziehe meinen Regenmantel an, setze die Kapuze auf und lasse mich von dem GPS meines iPhones zur Stelle hinter dem Hauptbunker führen, an der der Audio-Walk-Rundgang der App beginnt. I FODSPORENE OF Æ SKAWMAND. In den Fußstapfen des Schrankmanns. STATION 1: VELKOMST. Nachdem ich mir die etwas mehr als einminütige dänische Begrüßung angehört habe, folge ich dem auf der App angezeigten Weg und laufe mit eingezogenem Kopf unter der Oddesund-Brücke hindurch.
Auf der anderen Seite der Brücke stoße ich auf mehrere Angler, die sich wie an einer Perlenschnur aufgereiht das schmale Ufer teilen und ihre Leinen im Limfjord versenken. Im Oddesundtårn hatte ich vor einigen Tage die Sage zur Entstehung des Namens Limfjord gelesen. Demnach sollte eine Frau einen Sohn gebären, der sich mit Jesus Christus messen könne. Stattdessen gebar die Frau aber ein hässliches Wesen, das einem Schwein ähnlich sah und den Namen Limgrim erhielt. Limgrim wuchs heran und wurde mit den Jahren stark und riesig … so riesig, dass seine Borsten bis über die Wipfel der Bäume ragten. Ohne Unterlass rannte es herum und wühlte dabei tief in der Erde. Dabei entstand eine Mulde, von der Nordsee bis zum Kattegat. Diese Mulde füllte sich mit Wasser und wurde fortan Limgrims Fjord oder Limfjord genannt.
Der Regen wird stärker. Ich eile weiter zur zweiten und danach zur dritten Station. In einer rissigen Betonhütte finde ich Schutz und lausche minutenlang den dänischen Ausführungen der App, verstehe dabei aber nur einzelne Worte.
Als es aufklart und der Regen schwächer wird, laufe ich weiter zum kleinen Yachthafen. Am Bootshaus lese ich die Informationstafeln zum früheren Dampfschiffverkehr und betrachte die Schwarzweißaufnahmen der Fähren INGEBORG und VALDEMAR. Die Wolken am Himmel verziehen sich, und ich laufe weiter. Vor dem leeren Spielplatz treffe ich auf eine Frau in einem roten Regenmantel, die einen kleinen, stillen Hund ausführt. Auf Englisch spreche ich die Frau an. Ich erzähle ihr, dass ich dem Audio-Walk auf den Spuren des Schrankmanns folge und stelle ihr dazu zwei Fragen. Sie antwortet mir ausführlich in meiner Muttersprache und entschuldigt sich dabei für ihr schlechtes Deutsch. Ihre Antworten sind hilfreich, und ich laufe weiter und gelange zur nächsten Station, einer kleinen Kiesbadestelle mit wilden Büschen, lila Blüten und dem Blick auf Skibdal auf der anderen Uferseite. Dort hatte Jørgensen mit seinem Schrank drei Jahre verbracht.
Die App leitet mich weiter über Eisenbahnschienen und die Nationalstraße. Ich öffne ein schweres Gatter und betrete eine große Wiese. Quer laufe ich über das Grün, das voller Kuhfladen ist, bis ich auf einen Pfad gelange, der mich durch einen Wald führt. Ich bin umgeben von Kiefern und Tannen und Besenginster, dessen strahlend gelbe Blüten von allen Seiten auf den schmalen Weg ragen. Nach wenigen Metern lichtet sich der Wald und zwischen den Bäumen erspähe ich das Blau des Fjords. Das Meer ist aufgewühlt und die weiße Gischt fliegt hoch über die Wellen.
Ich folge dem Pfad und erreiche die letzte Station. Eine grüngestrichene Hinweistafel erzählt Jørgensens Geschichte auf Dänisch, Englisch und Deutsch. Æ Skwawmand. The Cabinet-Man. Der Schrankmann. Dramatisch hängt der Himmel voller Wolken und in der Ferne erkenne ich die Hügel von Toftum Bjerge.
Efter 39 år på stedet blev han fundet død ved siden af sit skab og blev begravet på Odby Kirkegård.
Nach 39 Jahren an diesem Ort wurde er an der Seite seines Schranks tot aufgefunden und auf dem Odbyer Friedhof begraben.
Von Jørgensens Schuppen oder Backsteinhaus ist nicht mehr zu sehen. Ich kniee mich in den Kies und mache mir Notizen. Ein steifer Wind fährt mir in die Kleidung, und ich erhebe mich und laufe quer über die Wiese zurück zum Oddesundtårnet. Die Exkremente auf der Wiese stammen nicht von Kühen, sondern von jungen Bullen, die zwischen den Überbleibseln des Atlantikwalls grasen und mich misstrauisch beäugen. Ihr Fell ist pechschwarz mit demselben breiten weißen Streifen in der Mitte, so als ob die Tiere maschinell bemalt worden wären.
Als ich am Auto bin, bemerke ich zu meinem Entsetzen, dass ich es nicht abgeschlossen hatte. Zum Glück wurde nichts gestohlen, auch nicht mein Portemonnaie in der Mittelkonsole. Ich steige ein, tippe ODBY KIRKEGÅRD als Zielort in mein iPhone und fahre los. Nach kurzer Fahrt erreiche ich mein Ziel und halte auf dem Parkplatz des Kirchfriedhofs. Er ist über achthundert Jahre alt und sieht aus wie alle dänischen Kirchfriedhöfe, die ich den letzten Tagen besucht habe: Gepflegt, sauber, menschenleer. Ich steige aus dem Auto, betrete den Friedhof und laufe systematisch durch die Reihen. Die meisten Gräber sind höchstens zwanzig, dreißig Jahre alt. Erst im zweiten Anlauf entdecke ich die gesuchte Grabplatte auf dem Feld direkt neben der Kirche.
KR. VANDET JØRGENSEN
3.10.1897 3.8.1956
Die Grabstelle des Schrankmanns ist eine der ältesten des Friedhofs. Unter dem Geburts- und Sterbedatum steht ein Satz in Versalien.
DER ER RUNER
SOM INGEN KAN TYDE
ES GIBT ZEICHEN
DIE NIEMAND VERSTEHT
Erstveröffentlicht in BILDER UND ZEITEN, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Samstag, 23. September 2023