Bouquet of Tulips (Jeff Koons)
Dienstag, 1. November 2022, Paris
Mit dem Bus halte ich vor der Brücke Pont Alexandre III an der Straße Quai d’Orsay. Es ist eine der schönsten Brücken von Paris mit vier Flankentürmen und imposanten Bronzefiguren als Spitzen.
Die Sichtachse reicht vom Invalidendom in meinem Rücken bis zum Champs-Elysées.
Von der Brücke kann ich die zahlreichen und verhältnismäßig großen Ausflugsschiffe sehen und linkerhand den Eiffelturm.
Die Gehwege auf beiden Seiten sind breit und werden von zahlreichen Spaziergängern, Paaren, Joggern und Segway-Fahrern bevölkert. Hoch über mir fliegen zwei Schwäne.
Die Brücke führt zum Grand Palais und Petit Palais – alle drei Bauwerke wurden für die Weltausstellung 1900 geschaffen. Das Grand Palais ist größer als der Petersdom – damals hat man für Weltausstellungen noch alles gemacht. Ich passiere ein Reiterdenkmal von Simon Bolivar. Laut Google befindet sich unter mir der Technoclub Tunnel of Love.
An einem Stromkasten hat jemand SICK WORLD geschrieben.
Nachdem ich eine schmale Straße überquert habe, beginnt der »jardin des abords du Petit Palais«. Ich laufe an einem Denkmal für Winston Churchill vorbei: WE SHALL NEVER SURRENDER.
Ein Mann in einem komplett silbernen Anzug auf einem elektrischen Einrad überholt mich. Der Grand Palais ist eingezäunt, während Touristinnen vor den bunten Skulpturen von Ugo Rondinone am Eingang posieren.
Bevor ich zur Skulptur von Jeff Koons gehe, betrete ich den Petit Palais, der das Musée des Beaux-Arts de la Ville de Paris beherbergt und keinen Eintritt kostet. Ich laufe durch die oberen Hallen des neobarocken Gebäudes, bestaune die prächtigen Deckenmalereien, die ausgestellten Skulpturen und besonders die blauweißen von der Decke im Eingangsbereich herabstürzenden Menschen bzw. Himmelswesen.
Besonders schön ist der grüne, halbrunde, menschenleere Garten im Innenhof.
Ich setze mich an einen der Tische und mache eine kurz Pause, dann verlasse ich den Petit Palais, ohne mir die Ausstellung im Untergeschoss anzuschauen, gehe links an dem Gebäude vorbei zum Park in die Richtung, aus der ich hergekommen bin. Schon von weitem sehe ich das von Jeff Koons gestaltete Kunstwerk: Eine rechte Hand wie bei der Freiheitsstatue in New York, die allerdings keine Fackel, sondern einen Strauß bunter Koons-Tulpen hält, insgesamt elf Stück – die letzte zum Dutzend fehlende repräsentiert die Opfer der Anschläge von Paris im November 2015. Es ist ein strahlend schöner sonniger Tag. Das Kunstwerk liegt etwas versteckt im Park. Vor mir geht eine Familie mit zwei jungen Töchtern.
Die eine bleibt schon von weitem neben einer Laterne stehen und posiert für ein Foto und streckt die Hand so aus, als ob sie die Blumen in ihrer Hand hält.
Ich gehe den Weg weiter und nähere mich dem Platz mit der elf Meter hohen, von Bäumen und sechs Parkbänken umgebenen Skulptur. Sie befindet sich auf einem Kalksteinsockel, der fast dieselbe Sandfarbe hat wie der Kies auf dem Gehweg. Es ist ein schönes Mahnmal.
Die Hand ist sehr fein und realistisch gearbeitet, die Fingernägel sind perfekt manikürt, sogar ein kleiner Leberfleck ist auf dem Unterarm zu erkennen.
Im Kontrast zum Realismus der Hand sind die bonbonfarbenen Tulpen in für Jeff Koons typischer Weise makellos stilisiert. Mir gefällt die Skulptur, weil sie sich schön und unaufdringlich in den Park einfügt.
Das Mahnmal wird nicht bewacht, es ist auch nicht beschmiert, allerdings erkennt man auf dem Sockel noch Reste von Schriftzügen und Schmierereien – wahrscheinlich muss der Sockel in regelmäßigen Abständen gereinigt werden.
Auf der Vorderseite gibt es eine Tafel mit dem Namen des Kunstwerks.
Auf der Rückseite zwei Tafeln mit Danksagungen, den Namen der Spender und Informationen zur Einweihung am 4. Oktober 2019.
Im Internet lese ich über den Streit und die Diskussionen zur Skulptur. Auffällig ist, dass an dem Denkmal keinerlei Blumen oder Kränze niedergelegt worden sind, obwohl heute Toussaint/Allerheiligen ist.
Im Gegensatz dazu war, wie ich im Vorbeifahren aus einem Bus gesehen habe, die Flamme de la Liberté (Flame of Liberty), eine Replika der Fackelflamme der New Yorker Freiheitsstatue, die sich über dem Tunnel befindet, in dem Lady Diana gestorben ist und die heute als Gedenkort für die Prinzessin von Wales gilt, von zahlreichen Blumen und Kränzen geschmückt. Von den Menschen in Paris scheint Jeff Koons‘ Denkmal also nicht als Erinnerungsort angenommen worden zu sein.
Anlässlich der Veröffentlichung von Leonhard Hieronymis Roman »Der gute König«.