für Leo
Ich habe selten
so gut beschriebene Texte gelesen,
hat Andreas Reiffer in S.U.B.H. #10
über meinen ersten Gedichtband
Farben und Formen
geschrieben.
Das war 1993 oder 1994.
Na gut, schrieb Andreas Reiffer weiter,
an Brautigan kommen sie nicht ran,
aber eine gewisse Verwandtschaft
fällt doch auf.
Ich hatte noch keine Zeile
von Richard Brautigan gelesen,
trotzdem freute ich mich über das Lob,
auch wenn es mich irritierte
und ich auf Brautigan
und seine Texte
insgeheim
ein Stück weit
eifersüchtig war.
Kurz danach hörte ich auf,
Gedichte zu schreiben.
Ich glaubte an Entwicklungsstufen
beim Schreiben.
Man fängt an mit Gedichten,
um ein Gefühl für die Sprache
zu entwickeln.
Man macht weiter mit Theaterstücken
und lernt das Schreiben
von Dialogen.
Zum Schluss kommt die Prosa,
die alles vereint.
Zwei oder drei Jahre später
kaufte ich mir
ein Büchlein von Richard Brautigan.
Wir lernen uns kennen,
Stories.
Es kostete zwei Mark
und war in der Jubiläumsreihe
50 Jahre Rowohlt Rotations Romane
erschienen.
Leute,
die Brautigan gelesen haben,
haben so ein seltsames Lächeln auf dem Gesicht,
stand ein Zitat
aus dem Rolling Stone
auf dem Umschlag.
Doch die Geschichten
in dem Büchlein
hatten mich nicht beeindruckt
und mir kein Lächeln
ins Gesicht
gezaubert.
Im November 2019
like ich
zwei Fotos von Marius Goldhorn
auf Instagram.
Das erste Bild zeigt ihn
und Leonhard Hieronymi,
die auf zwei Stühlen
auf einem Holzbalkon sitzen.
In der Mitte ein Tisch
mit einem Buch,
dahinter das Tal,
die Bäume,
die Klippen,
die grünen Hügel mit die einzelnen Häusern,
die Küste,
der Ozean
und das warme goldene Licht.
Das zweite Foto zeigt die Tischplatte,
einen türkisfarbenen Metallmond
mit Kratern
und abgeplatztem Lack,
jetzt ohne Buch,
dafür mit einem Loch in der Mitte
für den Sonnenschirm,
und einer Schuhspitze
am unteren Bildrand.
Die Unterschrift des Posts lautet
Richard Brautigans Balkon.
Am nächsten Tag schreibe ich
Leonhard Hieronymi
aus dem IC 2310
nach Hamburg
und erwähne im P.S. auch
Richard Brautigans Balkon.
Lieber Marc,
antwortet mir Leonhard Hieronymi
Stunden später
aus Kalifornien,
wir lieben Richard Brautigan sehr,
er braucht angemessene
und neue Übersetzungen
ins Deutsche,
vielleicht wagen wir uns alle mal
im Kollektiv ran!
Ich schreibe zurück,
dass ich Richard Brautigan auch mag,
allerdings viel zu wenig von ihm kenne,
aber das Erinnerungsbuch
You Can’t Catch Death
seiner Tochter Ianthe Brautigan
empfehlen kann,
das ich auf der
Road-to-Twin-Peaks-Tour
gelesen hatte.
Memories
drift to the ground
like snow.
Vierzehn Tage später
kaufe ich
für zwei Euro
bei text+töne
das rororo-Taschenbuch
Die Pille
gegen das Grubenunglück
von Springhill
& 104 andere Gedichte
von Richard Brautigan
ausgewählt und übertragen
von Günter Ohnemus
mit einem typisch schrill-naiven
achtziger Jahre Cover
von Hendrik Dorgathen.
Das
gegen
auf der Titelseite
ist mit * markiert.
Ich zitiere:
* (Das
gegen
im Titel dieses Buches
ist eine unkorrekte Übersetzung des
versus
in der Originalfassung,
die dem Übersetzer
merkwürdigerweise
erst sehr spät
aufgefallen ist.
Zu spät,
denn er mag den Titel inzwischen so gern,
dass er sich außerstande sieht,
ihn noch zu ändern –
ganz im Sinne
von Richard Brautigans Gedicht
DER AMELIA EARHART PFANNKUCHEN
Ich kann einfach kein Gedicht finden
für diesen Titel.
Ich habe jahrelang nach einem gesucht,
und jetzt geb‘ ich auf.)
Begeistert lese ich in dem Buch
und stelle nach fünfundzwanzig
oder sechsundzwanzig Jahren fest,
dass ich ein Beatnik bin.
S.U.B.H. ist übrigens die Abkürzung für
shut up – be happy!
Frei übersetzt:
Halt die Schnauze und sei glücklich.